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christine7187

Die vergessenen Geflüchteten an der bosnischen Grenze




Dringender Hilfeaufruf: WiN-Mitarbeiterin Kristina Koch berichtet über die vergessenen Geflüchteten an der bosnischen Grenze


"Ich war gerade an der bosnisch-kroatischen Grenze. In einer bosnischen Stadt, die Bihać heißt. 18 Kilometer von Kroatien entfernt. Dort gibt es vier Lager für Geflüchtete. Ungefähr 9.000 Leute sind da untergebracht. In Bihać selbst leben 60.000 Menschen. Schöner Ort an einem Fluss und See, hab ich schon mal Urlaub gemacht. Vielleicht habt Ihr von den Zuständen der Geflüchteten dort gelesen oder gehört. Drei Lager sind die übliche Misere. Das vierte ist eine Katastrophe. Darum geht es mir hier besonders: Damit es in der Stadt ruhig bleibt, hat die Polizei im Juni begonnen, Menschen auf eine ehemalige Mülldeponie zu transportieren. An einem Ort, der Vucjak heißt, der aber kein Ort ist, sondern nur eine Müllhalde. Ich war da. Man fährt aus der Stadt heraus, zehn Kilometer in Serpentinen hoch auf einen Berg, dann enge Schotterstraße, Büsche. Am Ende des Weges steht ein Container, in dem Polizisten rumhängen. Dahinter die zugeschüttete Müllhalde. Hier hausen mehr als 900 Menschen. Dahinter ist nichts, der Berg fällt steil ab, Sackgasse.



Eigentlich sollte das erstmal geheim bleiben. Aber ein Bekannter von mir, der über die geflüchteten Menschen in Bihać berichten wollte, sah im Juni, wie Leute von der Straße in einen Bus gedrängt wurden. Er fuhr hinterher und landete mit ihnen an diesem unfassbaren Ort. Da gab es noch keine Zelte, keine Betreuung. Viele der Menschen waren verletzt; von kroatischen Grenzern verprügelt, angeschossen. Er hatte nur ein Mini-Notfallset dabei, verarztete notdürftig, kaufte in den folgenden Tagen von seinem Geld mehr Kram, immer mehr Leute wurden hergebracht. Junge Männer und Familien. Mit Krankheiten und Verletzungen. Bis es 900 Menschen waren. Anfangs nannte er sich und seine paar Geräte noch aus Spaß Ambulanz. Irgendwann wurde aus Dirk, dem Journalisten, der Arzt von Vucjak. Und das Sprachrohr für die Geflüchteten. Vermittler zwischen allen Fronten, Polizei, dem Roten Kreuz Bihać, Geschäften in Bihać und so weiter. Er haust da mit ihnen, isst den gleichen Fraß. Hat sich am Telefon die Grundlagen der Medizin erklären lassen. Dazu jeden Tag zwei Stunden Medien und Politiker informieren und updaten.

Unten in Bihać fragen wir einen Sicherheitsmann nach einem deutschen „Arzt“. „Meint Ihr Dirk?“ Als wir ankommen, streift Dirk gerade Gummihandschuhe ab. Kommt direkt von einer Operation an einem Bein. Auf einer verdammten Müllhalde. Er hat nun ein Zelt, in dem er Infusionen, OPs usw. durchführen kann.

Dirk, der aus Dortmund kommt, erzählt uns in Kurzform, wie er hier gelandet und wie die Lage momentan ist. Nach all den Monaten hier am Ende von Bosnien wirkt er immer noch wütend und gewillt die Sache so lange selbst in die Hände zu nehmen, bis sich EU, Regierungen, große Organisationen für die Menschen und die Gesetzesbrüche der Behörden und Polizei eines Tages interessieren. Ein Supertyp, freundlich, realistisch, fokussiert. Dann muss er noch schnell zu Ende operieren.

Es gibt jetzt auch Großzelte, in denen Dutzende Menschen zusammen auf dem Waldboden leben. Das soll die Vorbereitung des Red Cross Bihać auf die Regenzeit und den Winter sein. Das lokale Rote Kreuz hilft, aber den Großteil haben einzelne Menschen getan: Sie spenden zum Beispiel Geld. Dirk braucht jeden Tag 500 Euro, um das Arztzelt aufrecht zu erhalten. Ein Bus aus Österreich brachte EKGs. Ein slowenischer Soldat hilft ein paar Tage mit. Von der Uniklink Essen kamen Leute. Eine Krankenschwester aus Bayern kommt übers Wochenende, eine Kinderärztin aus Budapest. Zum Zuckerfest hat der Bürgermeister von Bihać ordentliches Essen gespendet, vereinzelte Bewohner sind wohl gesonnen. Kleine Initiativen aus Deutschland bringen Decken und anderen Kram. Alle im Camp haben Angst vor dem Winter. Einige sind sehr schwach.

Wir haben Schuhe mitgebracht, Medikamente und Geld. Uns kotzt es an, dass wir nur ein paar Leuten helfen können. Die meisten Menschen tragen Flipflops oder kaputte Schuhe auf dem Müllberg. Wollen so den Weg nach Kroatien und weiter wagen. Dirk und sein jeweiliges Team versuchen die Leute so gut es geht vorzubereiten: okaye Schuhe, Handy, Medikamente, Kopflampen, Wasser. Es ist schon oft passiert, dass die Leute nach ein paar Tagen zurückkamen: ohne Schuhe, ohne Handys, ohne irgendwas, verletzt und erniedrigt. Wenige werden es schaffen.

Unten in Bihać erzählt ein afghanischer Junge, dass er erst Richtung EU aufbrechen kann, wenn er seinen Bruder gefunden hat. Der auch irgendwo in Bihać sein muss, aber nicht mehr auf Anrufe reagiert. Dirk erklärt oben im Camp, dass es im Ort noch einen zweite Polizei gibt, Squad-style. In schwarzen Bussen ohne Seitenfenster fahren sie rum, schüchtern die Leute ein. Dirk hat beobachtet, wie sie Leute in den Bus zerren, den Wagen in die Sonne stellen und Kaffee trinken gehen. Halbtot fallen sie nach Stunden wieder raus. Und landen bei Dirk, der sie behandelt. Der Wilde Westen mitten in Europa.



Unten im Ort sitzen die Flüchtenden, die in den anderen Camps untergebracht sind, in Parks rum, auf Wiesen, immer etwas abseits, aber sichtbar. Unser Eindruck ist erstmal ok, alle sind ruhig, auch die Gruppen, die Einheimischen machen ihren Kram. Ein junger Mann aus Pakistan betritt zögerlich eine Bäckerei. Ein Junge läuft in Badelatschen bei 35 Grad den Berg hoch, er will nicht mit uns fahren. Ein anderer zückt sofort seine ‚Meldebescheinigung’ mit Info über seine Unterbringung. Hat wohl keine gute Erfahrung mit fragenden Leuten gemacht. Wer keine hat, wird mitgenommen oder auf den Müllberg gebracht. Dirk erzählt, dass die Leute in den meisten örtlichen Geschäften unerwünscht sind. Eine Bewohnerin von Bihać sagt, dass sie keine Angst vor den vielen neuen Menschen hat, die überall in der Stadt rumsitzen. Denn die Polizei habe alles unter Kontrolle.

Dirk hat alle informiert, die was tun könnten. Er hat telefoniert, Briefe geschrieben, Interviews gegeben. Die EU ist informiert, dass die kroatische Polizei illegal Flüchtlinge nach Bosnien zurück schickt. Dabei Gewalt anwendet, ausraubt, Schusswaffen vorhält und benutzt. Die meisten der gestrandeten Menschen in Bihać waren bereits in der EU und wurden illegal durch Kroatien zurückgepusht. Diese Menschen hätten in der EU Asyl beantragen können. Dirk finanziert alles alleine und durch die Spenden. Die EU hilft nicht, Bosnien hilft nicht, keine große Hilfsorganisation hilft. Im Winter könnte es zu Todesfällen kommen. Auch die Stadt Bihać erhält keine Unterstützung."


Hier sind Dirks Kontoinfos und seine Seite:

Sonderkonto Empfänger: Dirk Planert Iban: DE51500105175537201112 Bic: INGDDEFFXXX


Wer mehr erfahren möchte: Videos, Fotos, Links zu Medienberichten und Dirks eigene, viel detaillierte Berichte sowie die derjenigen, die dort geholfen haben, sind auf seiner facebook-Seite zu finden. Er führt dort Tagebuch.

Wer helfen mag, eine Geldspende wäre toll. Verbreitung auch. Wer noch mehr wissen oder machen will, kann mir gern schreiben (kk@kristina-koch.com).

Danke fürs Lesen.


12.09.2019 Kristina Koch

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